In Fortsetzung der künftig von Schömberg ausgehenden Versuche, dem Gesamtwerk des Gesamtkünstlers Hermann Finsterlin schrittweise gerecht zu werden, geht es heute um einen Überblick über, um einen Einblick in das literarische Werk Hermann Finsterlins. Ich habe im September letzten Jahres bei meinem Versuch einer Einführung in des Gesamtwerk bereits darauf hingewiesen, daß sich dieses umfangreiche literarische Werk nur bedingt vom anderen Oeuvre Finsterlins trennen läßt. Und im Falle des Schömberger Freskos einer kristallinen Berglandschaft zeigen können, wie die sich dort tummelnden Figuren bzw. Kristallwesen, die Finsterlin anderen Orts "Kristallelfen" genannt hat, von Finsterlin auch literarisch bedacht wurden:
Um solch ikonographische Spurensuche geht es mir heute nur am Rande; vorrangig statt dessen um den Schriftsteller und Dichter Hermann Finsterlin, dessen bisher nur zu Bruchteilen und unzulänglich veröffentlichtes literarisches Werk ich zunächst vom Umfang her zu skizzieren habe. Es umfaßt neben einer noch nicht überschaubaren Vielfalt von Gedichten eine größere Anzahl von Aphorismen, Szenarien und Filmskripte sowie architekturbezogene und zivilisationskritische Essays unterschiedlichster Provenienz.
Dreimal ist zu Hermann Finsterlins Lebzeiten ein Anlauf gemacht worden, dieses umfangreiche Werk zu ordnen, ohne das dies glücken wollte, zweimal von Hermann Finsterlin selbst um 1911 und Mitte der 20er Jahre in Kontexten, auf die ich noch zu sprechen kommen werde.
Ein drittes Mal hat Carl Lamprecht aus Berchtesgaden um 1950 versucht, wenigstens das Gedichtwerk zu ordnen und dafür einen Verleger zu finden. Aus einer undatierten Kritik eines Vortrags von Carl Lamprecht - "Hermann Finsterlin - ein unbekannter bayerischer Dichter" - wissen wir, daß diese gesammelten Gedichte den Titel "Die Spielarten Gottes" führen sollten und auf drei Bände konzipiert waren: "Um Phantasie zu werben bin ich da", "Was dauern will, muß eigensinnig sein", und "Das Unsagbare ist das einzig Wahre".
Einem undatierten Brief Lamprechts an Finsterlin ist zusätzlich zu entnehmen, daß der erste Band weitgehend abgeschlossen war und den "Ungemeinen" vorstellen sollte, wobei der von Lamprecht zur Charakterisierung Finsterlins gebrauchte unübliche Begriff des "Ungemeinen" vielleicht und am besten mit nicht gemein, nicht dem Allgemeinen entsprechend zu übersetzen wäre -
Einem undatierten Brief Lamprechts an Finsterlin, sagte ich, ist zusätzlich zu entnehmen, daß der erste Band weitgehend abgeschlossen war und den "Ungemeinen" vorstellen sollte, "mit seiner Art, seinen Gedichten, seiner Weltschau, seinem Lied von der Erde, seiner Kritik der Fehle und seiner Selbstbefreiung". Der zweite Band sollte dann "einzelne Bücher, Zyklen des Ungemeinen", unter ihnen "Göttliche Vagabunden" und "Lieder des Pan" versammeln, die den dritten Band "vorbereiten" sollten, der "nun ganz dem 'Ungemeinen' selber geweiht" sein werde.
Lamprecht war es bei seinem Ordnungsversuch vor allem um eine allgemeine Verständlichkeit zu tun, die sich aus einem "organischen Hervorgehen des Einen aus dem Anderen" ergeben sollte. "Anzuschließen", fährt der Brief dann fort -
"Anzuschließen an diese drei Gedichtbände wäre noch in einem 4. resp. 5. Band die Prosa. Dann hätten wir die 'Gesammelten'. Doch sind mir die Gedichte in dieser Ordnung so wichtig, daß ich daran noch nicht einmal denke. Wie schön diese Fülle!"
Ob Lamprecht je an einer verbindlichen Ordnung der Bände 4 und 5 gearbeitet hat, wissen wir bisher nicht. Mit Sicherheit fand sich aber für die Gedichtbände 1 bis 3 trotz regen Bemühens weder in Deutschland noch in der Schweiz ein Verleger.
Erst 1964 erschien - gerade rechtzeitig zur Münchner Ausstellung "60 Jahre Finsterlin. Querschnitt durch sein Schaffen" - als Privatdruck in einer Auflage von 1000 Stück eine Gedichtauswahl unter dem Titel "Lieder des Pan. Ein Griff in ein halbes Jahrhundert", mit einem Vorwort des inzwischen verstorbenen Carl Lamprecht, in dem wir den dann freilich mit 1930 falsch datierten Berchtesgadener Vortrag vermuten dürfen.
1970 folgte noch ein schmales Bändchen, das 29 erotische Miniaturen mit Gedichten Hermann Finsterlins versammelte. Das war es zu Lebzeiten.
1988 habe ich aus Anlaß der großen Stuttgarter Finsterlin-Retrospektive versucht, im Anhang an die Monographie einen repräsentativen, wenn auch bescheidenen Querschnitt durch das literarische Werk zu geben und bei dieser Gelegenheit eine größere Anzahl ausgewählter Texte erstmals veröffentlichen können.
Ich will mich heute aber nicht an meine damalige Gliederung und Zuordnung nach Gattungen halten sondern chronologisch vorgehen, einmal, um auch das andere künstlerische Werk nicht ganz aus dem Augen zu verlieren, vor allem aber, um so leichter das literarische Werk Finsterlins in den literaturgeschichtlichen Zusammenhang stellen zu können, wobei es einige kleine Entdeckungen zu machen gilt.
Als ob ich ein Dichter wär
Während sich die Anfänge der künstlerischen Entwicklung Finsterlins im Dunkel der Anekdote verlieren und sich erst seine Ausbildung als Kunstmaler mit 1905 bis 1908 sehr wahrscheinlich machen läßt, sind wir im Falle des literarischen Werkes besser informiert. Erhalten haben sich für die Jahre 1904 bis 1911 drei Bände handschriftlicher Gedichte, "Meine ersten Versuche" und "Mit offenen Augen", Gedichte von 1904 bis 1907 bzw. von 1907 bis 1911 umfassend, sowie ein dritter Band ohne Titel mit einer Nachlese von Gedichten ab 1906. Zu diesen handschriftlichen Gedichten kommen vier Bände maschinengeschriebener Gedichte, von denen allerdings nur einer einen Titel trägt, das 1908 den Eltern zur silbernen Hochzeit gewidmete "Spinnengewebe". eine "Balladenheerde [!] von Hermann Finsterlin". Die anderen drei Bände sind titellos, einer auf dem Umschlag mit "HF" bezeichnet und "09-11", also September 1911 datiert, ein zweiter rückseitig mit einer Jugendstilvignette geziert, für die Finsterlin die Sphinx als Wappentier gewählt hat. Ein Wappentier, das auch in seinem dichterischen Werken eine Rolle spielen wird. Hinzu kommt ein Konvolut maschinengeschriebener Gedichte auf Japanpapier, das, in eine Buchhülle eingelegt, wohl ebenfalls gebunden werden sollte.
Die kostbaren Ledereinbände bereits der ersten beiden handschriftlichen Gedichtsammlungen sind originale Buchbinderarbeit. Daß ihre Verzierungen auf Vorlagen Finsterlins zurückgehen, ist denkbar wenn auch nicht belegbar. In beiden Bänden sind die Gedichte überwiegend datiert. Danach begänne die Gedichtproduktion Finsterlins im Jahre 1904 mit zunächst zwei Gedichten eher zögerlich, gefolgt von 18 Gedichten aus dem Jahre 1905, um dann 1906/07 stark anzuwachsen, wobei sich erst um 1907 eine ansatzweise eigene Diktion findet.
Was die interessante, freilich noch zu überprüfende Vermutung nahelegt, daß Finsterlins literarische Entwicklung in dem Maße an Sicherheit gewinnt, in dem er bei seiner Ausbildung als Kunstmaler zunächst scheitert.
Zwei Gedichte um 1908 deuten hier Zusammenhänge an. Das erste war für die damals neben dem "Simplizissimus" zweite populäre Münchner "Illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben", die "Jugend" gedacht, wenn auch dort nicht erschienen:
Da hab ich just bestiegen
Ein streikend Droschkenvieh,
Gab' Flügel ihm zum Fliegen,
Es war so schön wie nie.
Vorüber erst und hinter mir
Muß sein "Perück" und Mieder,
Dann komm ich durch die Hintertür
Im Rock der frommen Brüder.
Die Runen in meinem Knotenholz
Bewundert Snob und Gesind,
Ich aber lache vor Lust und Stolz,
Weils doch die Würmer nur sind.
Erzähl ihnen von meinem Reebenstock
Manch wunderliche Mär,
Und schüttle mein blondes Greisengelock
Als ob ich ein Dichter wär.
Mein Herz nur ist jung, und die Geister
der Nacht,
Die wassergebornen Gestalten,
Die kämpfen den Kampf um die heilige
Macht
Des Lichts mit dem Alten, dem Alten.
Das höchste Lied
Als Kunstmaler und als Dichter wenig erfolgreich, versucht Finsterlin zu Beginn des ersten Weltkriegs, an dem er in Folge eines Reitunfalls nicht teilnehmen muß, einen dritten Anlauf und schreibt sich im Herbst 1914 für das Wintersemester an der Münchner Universität als Student der Naturwissenschaften ein, um ein drittes Mal zu scheitern. Was Finsterlin finden wollte: Weltausdruck in den Künsten, Welterklärung in den Naturwissenschaften, fand er nicht. Man darf den Abbruch des Studiums, die folgenden fast verzweifelten unsystematischen Privatstudien in Richtung Mythos als eine Zeit der Krise begreifen, die sich in dem Maße steigerte, in dem keiner seiner Anläufe zu Lösungen führte, in dem seine Fragen, so unklar sie gestellt sein mochten, ohne Antwort blieben vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Wilheminischen Ära, ihres Bürgertums, des Ersten Weltkriegs - einer Zeit, die sich den Künstlern als "Jüngster Tag" und als "Menschheitsdämmerung" im doppelten Wortsinn einprägte. Wenn Finsterlin in einem Brief an seine spätere Frau Helene von seinem "schlimmsten Tag" spricht, und wir dürfen dies mit großer Wahrscheinlichkeit konkret auf den Abbruch seines Studiums beziehen, klingt dies durchaus mit:
Zunächst gestaltet sich dieser Um- und Aufbruch allerdings eher bescheiden in dem genannten "Liebesbriefwechsel" (so der Titel der zweiten Abschrift), der ausschließlich Briefe Finsterlins umfaßt, und einem ersten Prosaversuch, der das "Hohe" in "Das Höchste Lied" (so der Titel) steigert. Um 1916 entstanden, muß, bei wie so oft fehlender oder falscher Datierung Finsterlins, vorläufig offen bleiben, ob diese erotische Prosa Projektionsckarakter hat oder bereits eine Sublimierung der Liebes- und Ehebeziehung darstellt.
Er liegt in einem
Ich kann und will diese nur auszugsweise vorgestellte Prosa im folgenden nicht interpretieren, stattdessen ihre besondere Schlüsselrolle im (nicht nur literarischen) Werk Finsterlins hervorheben. Denn sie ist nicht nur erstens ein wichtiger Beleg für die Bedeutung, die die Liebe zu, die Ehe mit Helene in Biographie und Werk Finsterlins haben.
Sie ist zweitens ein wichtiger Schlüssel für die etwa gleichzeitig entstehenden erotischen Zeichnungen und anthropomorphen Architekturen an der Grenze zur erotischen Zeichnung, die seit 1919 einen Teil des Finsterlinschen Werkes ausmachen. Die augenblickliche Ausstellung zeigt einige spätere Beispiele.
"Das Höchste Lied" antizipiert drittens und eigentlich gar nicht so überraschend einen werkgenetisch entscheidenden Traum Finsterlins, Finsterlin wird ihn später seine "zweite Sternstunde" nennen, die wir mit dem Frühjahr 1919 datieren können. In ihr träumte sich Finsterlin aus dem architektonischen Gefängnis aus
Sie wächst plötzlich ins Riesenhafte, Pseudopodien emanieren sich aus der Kugel und nehmen wechselnde Gestalten an. Der ganze Grottenraum hat sich zum Dome des Weltraums erweitert. Man sieht Sonnen kreisen, Sterne in allen Formen und Farben bewegen sich durch den Raum, die Amöbe leuchtet auf, teilt sich, und die beiden neuen Kugeln schließen sich dem Rhythmus eines der Sonnensysteme an.
Diese kosmische Dimensionierung und Phantastik mag heute befremdlich wirken, literaturgeschichtlich war sie kein Einzelfall. Ich denke zum Beispiel aus dem Kreis der "Kosmiker" vor allem an Alfred Mombert, der neben seinem juristischen Brotstudium auch philosophische und naturwissenschaftliche Studien getrieben hatte, wie Finsterlin stand er unter dem Einfluß Nietzsches mit hymnisch-pathetischen, ekstatischen, [...] oft zyklisch ("symphonisch") komponierten Versdichtungen von großer Bildfülle um kosmische Visionen und mythische Gestalten. [Und er verband, Finsterlin durchaus vergleichbar, wenn auch in anderen Bezügen] in seiner mythischen Kosmologie gnostische Elemente, Seelenwanderungsvorstellungen und Visionen der schöpferischen Urkräfte in Geistes und Menschheitsgeschichte im materiellen wie im seelischen Bereich. [Wilpert]
Allerdings hat Finsterlins Wandlung zum Kosmiker ihre eigene Vorgeschichte, eine erste Sternstunde, die in der Literatur über ihn als Watzmannerlebnis zitiert wird und dem Architekturtraum um einige Monate vorausgeht. Finsterlin hat dieses Watzmannerlebnis rückblickend immer wieder mit den verwirrendsten Daten versehen und beschrieben. Heute nehmen wir mir großer Wahrscheinlichkeit als Datum den Herbst 1918 an, für den auch die Datierung der "Grotte" mit 1918 und ein eingebundenen Gedichtkonvolut sprechen, das "Schönau 18.12.18" datiert ist und vielleicht Helene Finsterlin als Weihnachtsgeschenk zugedacht war.
Ich gebe aus der Fülle der späteren Hinweise Finsterlins auf die Bedeutung des Watzmannerlebnisses drei Beispiele aus den 60er Jahren, das erste aus einem dreiseitigen Typoskript ohne Überschrift aber mit den bezeichnenden ersten Worten "Am Beginn meines bewußten Lebens".
Ein Verzweiflungsaufstieg auf den Watzmann
bei Berchtesgaden in einer zauberhaften Frühlingsvollmondnacht. Die
Erkenntnis meines Lebens unter der einen Firmenkuppel statt einer Katastrophe.
- Wo der unabsehbare Teppich des Seins als Wissenschaft nicht erreichbar
ist, bleibt nur der eigene Webstuhl. Und dieser Webstuhl unendlicher Combination,
der Gottheit lebendiges Kleid, unendlicher Complexverbindungen, unendlichen
Werdens, Vergehens, Veränderns ist allein menschlicher Kunst
wert. Sinn und Ziel dieser Kunst, die in so seltenen Fällen, wenn
überhaupt in historischer Zeit erfaßt und geübt ward, abgesehen
vielleicht von altem fernöstlichem Weistum und alten Mythenschöpfungen
- Kunst als Magie.---
Von diesem Zeitpunkt gab es für
mich nur mehr eigenes Schaffen in Wort, Bild, Ton und Bau.
In zwei Vortragstyposkripten heißt es gleichlautend:
Auf dem Gipfel unter der ungeheuren Kuppel war mir die Erkenntnis, daß unter meiner eigenen Knochenkuppel eine Welt, ein Mikrokosmos lebt, der mir Antwort gibt auf jede Frage, durch den Zauberstab Idee und ihre Mittel, die Künste. - Folge, ein Autodafée [!] aller Lehrbücher und -Hefte, und eine sprudelnde Produktion in Malerei, Dichtung und Musik; erst später kam der Bau.
Schließlich heißt es in einer "Biographie in großen Zügen", die Finsterlin Interessierten schreibmaschinevervielfältigt zur Verfügung stellte:
Ein Vollmondgang auf den Watzmanngipfel brachte eine fast schicksalhafte Lösung und Erlösung. War mir alle analytische wie synthetische Wissenschaft nur ein winziges Ausschnitt aus einem unabsehbaren endlosen Teppich gewesen, so erschienen mir plötzlich die schöpferischen Künste als einziger grandioser Abglanz der gesamten Schöpfung. Die Allmacht, die Urphänomene ins Unendliche, komponieren und variieren zu können, zeit- und raumlos gebundene Ereignisse bildhaft, klanglich oder wörtlich erstehen zu lassen in einem unbeschränkten grenzenlosen Spiel unter dem einzigen Gesetz einer lebensfähigen Bild-, Klang- und Wortorganisation eben der naturgesetzlichen Aesthetik sine qua non, die selbst den groteskesten Naturgebilden eignet, da hier jede Dissonanz, jede Übertreibung in die lebensfähige Balance rückt, in die übergeordnete Harmonie; war mir höchster Sinn des Lebens.
Es geht mir bei diesen Zitaten nicht um die Widersprüche sondern um das, was sie gemeinsam hervorheben. Und das sind
Ich gebe zwei Beispiele, ein erstes, das Finsterlin so wichtig war, daß er es als Motto auch seinem kurze Zeit später entstandenen Architektur-Essay "Der achte Tag" vorangestellt hat:
Am Kreuzwegkreuze seligster Verklärung
Geschmiegt ins ewige Geleis
Der gegenwärtigsten Erhörung
Kreist frei das eigenste Geheiß.
Meine Andacht ist unendlich
Wenn ich lausche Eurem Klang.
Doch der Meister wird Euch kenntlich
Und mein Wille Euch verständlich
Wenn die Gottheit in mich sprang.
Utopische Architektur und phantastischer Film
Finsterlins durch das Watzmannerlebnis ausgelöster, alle Kunstarten umfassender Schöpfungsrausch, in dessen Konsequenz wir uns auch den bereits erwähnten Architekturtraum und eine Fülle durch ihn ausgelöster Architekturzeichnungen denken müssen, brachte Finsterlin überraschend schnell in Kontakt mit einer Gruppe utopischer Architekten, deren Namen heute in keiner Architekturgeschichte fehlen dürfen. Und über diesen Kontakt wurde Finsterlin korrespondierendes Mitglied in einem legendären Briefwechsel und Schriftenaustausch, der heute unter dem Namen "Die Gläserne Kette" Kulturgeschichte ist. Was diesen Briefwechsel und Schriftenaustausch für das heutige Thema, das literarische Werk Finsterlin, interessant macht, ist dreierlei.
1. bietet dieser Brief- und Schriftenaustausch
Finsterlin die Möglichkeit, seine schriftstellerischen Arbeiten unter
Gleich- oder doch Ähnlichgesinnten bekannt zu machen und zu diskutieren.
Dabei entstehen und kursieren nach den inzwischen in Berlin ausgestellten
Architekturzeichnungen
2. jetzt auch die von diesen Zeichnungen
nicht zu trennenden, sie theoretisch ergänzenden Architektur-Essays,
unter Ihnen der schon genannte "Achte Tag".
3. kann Finsterlin in diesem Brief- und
Schriftwechsel erstmals auch literarische Arbeiten, speziell seine Szenarien
und Filmskripte vorstellen.
Zu meinem Film "Die Galoschen des Glücks" [schreibt z.B. Bruno Taut in einem Brief vom 2. September 1920] habe ich einige freudige Zustimmungen bekommen. Prometh [so der Deckname Finsterlins in der "Gläsernen Kette"] schickte mir in schönem Wechselspiel des Zufalls auch einen Film "Der Trotz des Heils". Er ist wundervoll phantastisch und stellt an den Filmapparat die denkbar höchsten Forderungen. Viele Szenen sind mir als Bilder haften geblieben; doch fürchte ich sehr bei der Vorführung eine Ermüdung in der allzu großen Häufung der Phantastik. Was aber sehr gefährlich ist, das scheint mir das Hineintragen einer großen Idee in den Film zu sein, der doch immer bloß ein technisches Möbel und ein Flimmerkasten bleibt.
Dieses Kapitel Filmgeschichte, in dem Architektur und Film eine Ehe auf Zeit eingehen, muß noch geschrieben werden. Ein Aufsatz von H. de Fries über "Raumgestaltung im Film" im 5. Jahrgang von "Wasmuths Monatshefte[n] für Baukunst" (1920/1921), den auch Finsterlin sich aufgehoben hat, deutet die Richtung an, in der hier gefragt werden müßte.
De Fries' Überlegungen sind für den filmgeschichtlichen Beitrag der "Gläsernen Kette", speziell für Finsterlins Szenarien und Filmskripte schon deshalb von Bedeutung, weil sie sich auf Filme "des unwirklichen Daseins" konzentrieren, auf "Traumphantasien, phantastische Vorgänge", die "in ferne Vergangenheit" (Golem) oder in ferne Zukunft (Algol) verlegt" sind. Oder "das menschliche Gehirn" sehe, "durch irgendwelche Erschütterungen bestimmter Hemmungen beraubt, [...] seelische Vorgänge plastisch in so starker Bildkraft vor sich, daß das wirkliche Dasein dagegen" verblasse "und die Fiktion seine Stelle" einnehme.
In allen diesen Handlungen ist Menschliches
irgendwie über seine Grenzen gerissen und den eigenen Phantomen ausgeliefert.
Und es ist die höchst bedeutsame Eigenart des Film, daß er auf
die Klarstellung seelischer Vorgänge durch den auf der Sprechbühne
üblichen Wortdialog fast vollkommen Verzicht leisten muß, (...)
und daß sich seelische Vorgänge bei ihm völlig in sinnlich
greifbare Bilder umsetzen müssen. Bilder, die eigentlich wieder keine
Bilder sind, da sie nicht ein Sein umschließen, sondern eine Handlung:
Bilder, die aufgehört haben, ein Momentanes in Fläche für
Dauer festzuhalten, sondern die eine Folge von Momenten im Raum für
kurze Zeit aufzeigen sollen. Bilder, die keine Bilder mehr sind, sondern
Raum, der lebendiges Geschehen umschließt.
Von besonderem Interesse für Finsterlin
und die "Gläserne Kette" dürften dabei die Hinweise auf den "Algol"-
und dem "Golem"-Film gewesen sein, auf ersteren, weil er "zum Teil auf
jenem fernen Stern Paul Scheerbartscher Erfindung" spielt, "der in neuerer
Zeit zu allerhand künstlerischen und literarischen Versuchen herhalten
muß", auf letzteren, weil seine Räume nicht von einem Maler,
wie im ersten Fall, sondern von dem Architekten Hans Poelzig unter Assistenz
der Bildhauerin Moeschke "aufgebaut und durchgebildet" wurden. Dadurch
werde, anders als bei Malern, für die der Raum ein Zusammenstellen
von Flächen sei, Raum zur "plastischen Masse, von der im Modelliervorgang
zu- und abgenommen werden" könne. Besonders hervorhebenswert ist de
Fries dabei die "abgebrochene Spirale der Decke" und Poelzigs Absicht,
"eine Art jüdische Gotik zu schaffen".
Man kann Finsterlins Szenarien und Filmskripte, die ich im einzelnen hier nicht vorstellen kann, in Sinne de Fries' als "phantastische Vorgänge" begreifen, die zu seinen im Bild 'erstarrten' Architektur-Phantasien gleichsam das Spiel liefern. Denn es ist nicht zu übersehen, daß diese auf der einen Seite anthropomorphe Architektur sein können, daß auf der anderen Seite Finsterlin seine Architekturen gelegentlich durchaus mit Figuren belebt hat. Man kann Finsterlins Szenarien und Filmskripte aber auch - und wiederum in Sinne de Fries' - als Umsetzung "seelischer Vorgänge [...] in sinnlich greifbare Bilder verstehen, "die eigentlich wieder keine Bilder sind, da sie [...] eine Handlung" umschließen, "Bilder [...], die eine Folge von Momenten im Raum für kurze Zeit aufzeigen." Bis an die Grenze der Phantasmagorie verlagern sie ins phantastische Spiel auch, was ihn [Finsterlin] umtreibt, sind sie phantastischer Film ebenso wie Projektionen Finsterlinscher Phantasie. Wenn Bruno Taut "eine Ermüdung in der allzugroßen Häufung der Phantastik" befürchtet, ist dies vom Standpunkt des Rezipienten durchaus legitim, für das Selbstverständnis Finsterlins aber sekundär. Denn was sich zunächst in die Architekturzeichnungen, dann in die Essays, jetzt in den phantastischen Film ergießt und bald danach auch in kosmisch-komischen Gedichten formulieren wird, könnte man ohne jede Ironie als ein Durchbrennen aller Sicherungen bezeichnen, als eine kaum noch zu steuernde Entladung von etwas, das sich seit den ersten künstlerischen Gehversuchen des nicht einmal Zwanzigjährigen in einer jahrelangen Sinnsuche, in einer Folge ständigen Scheiterns angestaut hatte und jetzt plötzlich die Kanäle fand, herauszutreten in einen Freundekreis, der diese Eruptionen ernst nahm.
Alfred Brust, Paul Scheerbart und ein Dadaistisches Zwischenspiel
Es gibt aber noch ein Viertes, das den Briefwechsel und Schriftenaustausch der "Gläsernen Kette" für das heutige Thema, das literarische Werk Finsterlins, interessant macht. So lernt Finsterlin zunächst als korrespondierendes Mitglied, dann auch persönlich den Schriftsteller Alfred Brust kennen, der übrigens der "Gläsernen Kette" zu ihrem Namen verhalf. Zweitens wurde Finsterlin in und über die Korrespondenz der "Gläsernen Kette", auch wenn er es später herunterzuspielen versucht, ja sogar bestritten hat, mit der Gedankenwelt und dem Werk Paul Scheerbarts vertraut. So befand sich in seiner nachgelassenen Bibliothek Paul Scheerbarths "Seelenroman" Liwûna und Kaidôh", konnte er in der von Bruno Taut herausgegebenen Zeitschrift "Frühlicht" Scheerbarths "Glashausbriefe", den "Architekturkongreß" und den "Tortenstern" nachlesen (letzterer übrigens aus "Liwûna und Kaidôh"), und er stieß im utopischen Briefwechsel der "Gläsernen Kette" auf eine Permutation Scheerbarths:
Ich erspare Ihnen und mir weitere Namen und fasse zusammen, daß Finsterlin, entgegen seinen hartnäckigen Behauptungen sehr wohl wußte, was damals um ihn herum künstlerisch geschah. Eine andere Frage ist, ob es ihn interessiert hat, und hier gibt es mindestens zwei verblüffende Entdeckungen zu machen.
Die erste ist ein kleine Gruppe von Gedichten Arthur Rimbauds, die sich Finsterlin von Hand abgeschrieben hat, darunter die berühmten alchimistischen "Selbst-Laute" oder "Vokale" ["Voyelles"], die in der Übersetzung von Walter Küchler beginnen
Die zweite Entdeckung ist noch verblüffender. Finsterlin hat nämlich "die wolkenpumpe" Hans Arps regelrecht durchgearbeitet und exzerpiert, darunter den Text:
Gerne gehen Finsterlins komisch-kosmische Gedichte dabei von einem Wortspiel, einer Wortneubildung aus, die assoziativ unsinnig weitergesponnen wird:
Was so ein Sonnenstäubchen alles,
alles
zu leidesumweg' bringt, du glaubst
es kaum,
Des Saltomortatellereisenbartscheidewasserfalles
Urelement ist mehr, als schwarzen Herrgotts
Traum.
Ein frischer Frosch, gewickelt in
Ein Kuiai, Marke Fridolin,
Fühlt sich nicht ganz behäglich,
(Das ist auch gar nicht möglich)
-
O spiele nicht mit Gries - gewehr
Der Reis ist Dir zuträglicher,
Frag nur das Pipsevöglich.
Der Teigaff schwänzt inzwischen
frech
Die Schule des Abemmilech,
Ubi moloch? Erbärmilich -
Mir wird vor Milch ganz wärmelich,
Den Popo hat die Bettelfrau
Vor Piper und Papaver blau -
Sunt aries taurus, gemini cancer leo virgo.
Gesammelte Werke
Ich sagte einleitend, daß Hermann Finsterlin zweimal einen Anlauf unternommen habe, sein Werk zu ordnen, das erste Mal um 1911, ein zweites Mal Mitte der 20er Jahre. Dieser zweite Anlauf steht in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Erscheinen einer Finsterlin-Nummer der holländischen Architekturzeitschrift "Wendigen" zu Beginn des Jahres 1924 und einer Ausstellung von Architekturen und Aquarellen im Kunstzaal d'Audretsch in den Haag, Februar 1925. Sondernummer und Ausstellung haben nämlich Finsterlin nicht nur ein weiteres Mal zu einer Fülle reicher Architekturzeichnungen und Aquarelle angeregt, sie haben ihn auch veranlaßt, alles seit dem Watzmannerlebnis Geschriebene zu sammeln und zu sichten, abzuschreiben, vervielfältigen und binden zu lassen. 1925/1926 ist diese Arbeit weitgehend abgeschlossen. Sie erfaßt in ihrem Ergebnis einen Band mit architektonischen Essays, einen Band mit kulturphilosophisch-zivilisationskritischen Essays, in den, auffällig, auch "Das Höchste Lied" aufgenommen wurde, und einen Band mit Gedichten und Szenarien, für den Finsterlin der Titel "Der Schwarze Herrgott" übernimmt.
Ich vernachlässige die beiden Essaybände und konzentriere mich auf den Sammelband mit den Szenarien und Gedichten. Wie die Architektur- und kuturphilosophisch-zivilisationskritischen Essays mit Ausnahme des "Höchsten Liedes" umfassen auch die gesammelten Gedichte und Szenarien die Jahre 1918 bis 1825. In "Der schwarze Herrgott" hat Finsterlin jedoch anders als bei den Essays, bei den Gedichten eine Auswahl getroffen, die etwa ein Drittel aller zwischen 1918 und 1925 geschriebenen Gedicht umfaßt. Ausgewählt sowohl aus den kosmisch pathetischen Gedichten "Der Weltseele Sang" wie aus den komisch kosmischen Gedichten des "Schwarzen Herrgott" von 1922/23, weshalb Finsterlin jetzt auch den Untertitel "Beiträge zum komisch Kosmischen" von 1922/23 fallen lassen muß.
Zumindest für den Sammelband der Gedichte und Szenarien läßt sich ferner belegen, daß Finsterlin die mit Schreibmaschine vervielfältigten Texte mehrfach hat einbinden lassen, bei allerdings anderer Textfolge. Da diese geänderten Textfolgen keinen ersichtlich inhaltlichen Grund haben, im Gegenteil im Falle der Szenarien aber sonst Zusammengehöriges trennen, ist zu fragen, ob es sich hier um Flüchtigkeiten beim Zusammentragen der Texte handelt oder ob Finsterlin bei der Zusammenstellung dem Zufall freie Hand ließ. Für Flüchtigkeiten spräche, daß auch die "Lieder des Pan" 1964 Texte mehrfach wiedergeben.
Wichtiger noch als die Beantwortung dieser Frage ist die Tatsache der mehrfachen Einbände, denn sie signalisiert, daß Finsterlin bei seinen Zusammenstellungen durchaus an eine wenn auch kleine Auflage dachte, wie er auch später seine maschinenschriftlich vervielfältigten Gedichte in wechselnden Zusammenstellungen an seine Freunde zu verschenken pflegte.
Wie wichtig Finsterlin diese Zusammenstellungen waren, für die sich offensichtlich kein Verleger finden ließ, verraten die Maquetten, mit denen er die Einbände der Architektur-Essays und des "Schwarzen Herrgotts" schmückte. Weitere Einbandentwürfe aus derselben Zeit deuten auf ernsthaftes Anliegen, wobei besonders ein Entwurf hervorgehoben werden muß, der den programmatischen Titel "Das Buch" trägt. Er ließe die Deutung zu, daß Finsterlin im Rahmen seiner künstlerischen Hervorbringungen alle seine Texte als sein Buch, eben "Das Buch" verstanden wissen wollte. Darüber hinaus weist der Titel aber noch einmal zurück auf die "Gläserne Kette", in deren Briefwechsel mehrfach von dem Buch als einem Ziel die Rede ist. Was sich in seiner religiösen Dimensionierung erst ganz erschließt, wenn man hinzufügt, daß Bruno Taut die zwölf Mitglieder der "Gläsernen Kette" als Apostel, sich selbst als Christus dachte, was seine historische Parallele dann bei den Frühromantikern (vor allem bei Novalis und Friedrich Schlegel) finden würde, eine Traditionslinie, die ich hier nicht weiter verfolgen kann.
Postscriptum
Im Grunde genommen bin ich damit am Ende meines Überblicks über das literarische Werk Finsterlins angekommen. Neues hat sich seit den Gesammelten Werken Mitte der 20er Jahre kaum hinzugesellt. Was hinzukam, war Ergänzung oder Fortführung oder - musikalisch gesprochen - tema con variazione.
So wie die architektonische Baukästen und Spiele schon vor 1924 den Architektur-Essays, den Architekturzeichnungen und Aquarellen spielerisch zur Seite treten, hat Finsterlin zu seinen anspruchsvollen Szenarien und Filmskripten einfachere Spiele erfunden und mit seinen Kindern gespielt, Spiele, die spätestens 1928 zur Ausstellung im Stuttgarter Landesgewerbemuseum vorlagen. Eines von ihnen habe ich bei der Eröffnung dieser Ausstellung im September letzten Jahres vorgestellt. Es wird, zusammen mit anderen bei unserer nächsten, dem Spielzeug Finsterlins gewidmeten Ausstellung noch einmal diskutiert werden müssen. Das einzige, was in meinem Überblick noch fehlt, wären die Aphorismen, die Finsterlin im Umfeld seiner Gesammelten Werke in einem ersten Anlauf, aber ohne Ergebnis zu ordnen versuchte. Erst in den 50er Jahren findet sich dann eine mit "1922 - 27" datierte "Auswahl", ein Konvolut von mit verschiedenen Maschinen zur verschiedenen Zeiten geschriebener Typoskripte, meist als Durchschlag, deren Abschriften und Abfolge wiederholte Ordnungsversuche ablesen lassen, wobei ein oder der andere Aphorismus in verschiedenen Kontexten, z.T. in geänderter Fassung auftreten können. Hier ist also erst einmal Klarheit zu schaffen. Damit die Aphorismen in meinen Überblick aber nicht gänzlich fehlen, schließe ich einfach mit ein paar Beispielen und zitiere: