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Im Januar 1959 eröffnete ein Beitrag
von Sibyl Moholy-Nagy, "Der Selbstmord der modernen Architekten", in der
Stuttgarter Zeitung eine Diskussion mit eher negativer Bilanz, da die geforderten
Architekten auffallend stumm blieben. So kläglich sich der Diskussionsverlauf
in der Stuttgarter Zeitung gestaltete, das Jahr 1959 zeigt Sibyl Moholy-Nagy
im Vorfeld einer Architekturdiskussion und -rückbesinnung, in der
Udo Kultermann an die Stelle der traditionellen statischen eine "Dynamische
Architektur" (1) stellen wollte, in der Ulrich Conrads und Hans G. Sperlich
in ihrer "Phantastischen Architektur" (2) den Unterströmungen in
der Architektur des 20. Jahrhunderts nachspürten - unter einem
Paul Scheerbart entlehnten Motto:
Im Stil ist das Spiel das ZielAlle drei, Kultermann mit Blickrichtung Zukunft, Conrads/Sperlich in historischer Perspektive, zitieren Thesen, zeigten Arbeitsbeispiele eines damals 72jährigen Künstlers, um den es trotz einiger Nachkriegsausstellungen in Stuttgart, Wuppertal, Paris sehr still geworden war. Und dieser 72jährige hob den Fehdehandschuh, den Sibyl Moholy-Nagy den Architekten hingeworfen hatte, auf - in Zustimmung.
Im Spiel ist das Ziel der Stil
Ihn Ziel ist das Spiel der Stil. (3)
Verehrte gnädige Frau! schrieb er am 20. April 1959, Herrlich Ihr Architektur-Weckruf! Abgesehen von der selten beglückenden Qualität Ihrer Feder haben Sie mir damit eine Philippika erspart, die lange, lange schon auf meinem Programm steht und die nur stets vordringlicher Arbeit wegen unterblieben war. (4)
Mit dem Jahr 1959 ließe sich die Wiederentdeckung Hermann Finsterlins datieren, eine Wiederentdeckung in Raten und Teilsaspekten.
Zunächst sicherten Nikolaus Pevsner (5), Denis Sharp (6), Franco Borsi (7) und andere in den folgenden Jahren Finsterlin seinen festen Platz in der expressionistischen, und hier speziell der phantastischen Architektur. Eine Wanderausstellung der "Gläsernen Kette" (8) mit den Stationen Leverkusen, Berlin, Mailand, die in Berlin und Baden-Baden gezeigte Ausstellung "Labyrinthe1" (9) wiesen ihm den gebührenden Raum zu. Architekturstudenten der damals noch Technischen Hochschule Stuttgarts erarbeiteten ein erstens Oeuvre-Verzeichnis und organisierten eine Ausstellung der "Architekturen 1917-24" (10), die anschließend durch die Technischen Hochschulen Darmstadts, Karlsruhes, Aachens und Berlins wanderte.
Daneben versuchten zwei auch dem anderen bildnerischen Werk Finsterlin gewidmete Ausstellungen in München (11) und - kurz vor seinem Tode - 1973 eine dritte im Stuttgarter Kunstverein (12) zwar, den Blick auf das Gesamtwerk als ein Ganzes zu lenken, ohne allerdings die Gesamtkunst Finsterlins im Bewußtsein der Öffentlichkeit auf Dauer verankern zu können.
Mit Finsterlins hundertstem Geburtstag 1987 datiert eine zweite Phase der Finsterlin-Rezeption, zunächst mit einer Ausstellung in Sindelfingen (13), deren Katalog die Baukasten-Spiele ebenso wie das malerische und zeichnerische Werk wie die Lyrik Finsterlins berücksichtigt, gefolgt von der bisher umfassendsten Finsterlin-Ausstellung in der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart (14) (ferner Freiburg, Düsseldorf, Münster, Moskau), deren Katalog zum erstenmal auch das essayistische Finsterlins, seine Filmdrehbücher und Szenarien, das literarische und aphoristische Werk, aber auch Belege für den Komponisten Finsterlin zugänglich machte. Weitere Ausstellungen Finsterlins in seiner Heimat (Bad Reichenhall) (15) ebenso wie im Ausland (England, Holland, Spanien, Japan) oder erst jetzt anläßlich eines wieder freigelegte Wandgemäldes in Schömberg (16) machen immer wieder darauf aufmerksam, daß die einzelnen Teile dieses Gesamtwerkes vor jeder Bewertung erst einmal zusammengesehen und -gelesen werden müssen.
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Als Hermann Finsterlin 1919 fast über
Nacht bekannt wurde, lag bereits ein über zehnjähriges Schaffen
als Kunstmaler und Dichter hinter ihm, das jedoch lediglich als Weg zu
einer schöpferischen Explosion ohne Vergleich betrachtet und gelesen
werden kann. Das Datum dieser Explosion ist nicht genau angebbar. Es war
eine nächtliche Besteigung des Watzmann, die zum Auslöser wurde
für ein Werk in Wort, BiId, Ton und Bau. Es gibt Gründe,
diese von Finsterlin als Sternstunde bezeichnete Watzmannbesteigung
in den Herbst des Jahres 1918 zu rücken, einen Zeitpunkt, an dem nach
Ende des 1. Weltkriegs viele KünstIer versuchten, angesichts einer
zerscherbten, eine menschliche und bewohnbare Welt nicht nur zu träumen,
sondern in utopischen Entwürfen auch Laut und Bild werden zu lassen.
Zu dieser Watzmannbesteigung zu rechnen ist ein ebenfalls nur ungenau zu
datierender "Architekturtraum" Finsterlins, in dessen Folge wahrscheinlich
jene Architekturzeichnungen entstanden, mit denen er über Nacht berühmt
wurde.
Freilich: An Stelle des konkret nicht möglichen Bauens trat der Baugedanke. und dies nicht nur kunstübergreifend, sondern auch weltüberschreitend, was seine religiöse Einfärbung und kosmische Dimensionierung erklärt. Nicht von ungefähr wird von Feininger bis Schwitters, von Bruno Taut bis Hermann Finsterlin die Kathedrale zur vielbemühten Metapher, als Haus des HimmeIs (Taut), als Kathedrale des Lichts (Finsterlin).
Ausgetauscht wurden derart utopische Gedanken und Entwürfe unter anderem in dem heute auch im Druck zugänglichen Briefwechsel der "Gläsernen Kette" (17), einem Kreis von Architekten, Künstlern und Schriftstellern, zu denen auch Finsterlin zählte. Sie hatten sich für ihr phantastisches Unternehmen Decknamen gewählt, nannten sich, wie Bruno Taut in Anspielung seiner Glasarchitektur, "Glas", oder wie Finsterlin, bezogen auf seinen utopischen Weltentwurf, "Prometh", "Prometheus". Eine Quelle, aus der dieser Freundeskreis schöpfte, war das literarische Werk Paul Scheerbarts, aus dem Bruno Taut in seiner Zeitschrift "Frühlicht" wiederholt veröffentlichte, unter anderem die "Glashausbriefe" und ein Kapitel aus dem "Seelenroman" "Liwûna und Kaidôh", den auch Hermann Finsterlin in seiner Bibliothek besaß. Doch ist der Einfluß der Scheerbartschen "Ideenarchitekturen" eher seinem literarischen Werk, den sogenannten "Kosmischen Gedichten" und den Filmtexten ablesbar, die neben Filmskripten Bruno Tauts und Wilhelm August Habliks ebenfalls im Kreis der "Gläsernen Kette" zirkulierten und diskutiert wurden, ein bis heute ungeschriebenes Kapitel der Geschichte des phantastischen Films und seiner Architektur.
Als Ende 1920 / Anfang 1921 die Architekturfreunde
bei sich wieder einstellenden Bauaufträgen auf den Boden der Tatsachen
und des Machbaren zurückfanden, das "Bauhaus" den Baugedanken konstruktivere
Zügel anlegte, stand Finsterlin mit seinen utopischen Entwürfen,
von denen er nicht lassen konnte und wollte, allein. Es ist nicht beweisbar
aber wahrscheinlich, daß Finsterlins jetzt einsetzende intensive
Arbeit an seinen Architektur-Baukästen "Das Stilspiel" (1921), an
"Didym" und "Formdomino" - daß Finsterlins Architektur-Baukästen
auch ein Versuch sind, sich der Richtigkeit seiner Entscheidung, seiner
Position und des von ihn eingeschlagenen Weges zu vergewissern, sein utopisches
Konzept historisch zu fundieren.
Daß dabei die andere Produktion
(der Architekturzeichnungen vor allem) zeitweilig in den Hintergrund tritt,
wäre dann nicht als Akt der Resignation zu erklären, sondern
durch die anders gesetzten Prioritäten. So kann Finsterlin sich denn
auch nach Fertigstellung der Baukästen, im Vorfeld der geplanten Sondernummer
der Zeitschrift "Wendingen", 1923/1924 noch einmal intensiv den Architekturzeichnungen
zuwenden und losgelöst von traditionellen Baudenken Lösungen
erfinden von einer Schönheit und Deutlichkeit, wie sie in dieser
Form nicht mehr erreicht worden sind (18).
Dennoch: waren es 1919/1920 die Architekturentwürfe und -modelle, 1922/1923 die Architektur-Baukästen, die Finsterlin das Interesse der Öffentlichkeit gewannen. 1924, in einer Amsterdamer Ausstellung müssen zu den Architekturen, deren Utopie nur noch wenig interessiert, bereits zahlreiche ebenfalls seit ca. 1922 entstandene informelle Aquarelle hinzutreten, um das öffentliche Interesse wachzuhalten. Damit wird die Finsterlin gewidmete Nummer der Zeitschrift "Wendingen" fast zum Schwanengesang. Es ist kein Zufall, daß Finsterlin in diesen Jahren auch beginnt, das seit 1919 entstandene umfangreiche essayistische und literarische Werk zusammenzutragen und zu bündeln, ohne daß sich allerdings ein Verleger dafür findet.
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In die zweite Hälfte der 20er Jahre
fällt der Umzug der Familie Finsterlin nach Stuttgart, wo die Kinder
die Waldorfschule besuchen sollen, ein Umzug, den Hermann Finsterlin, selbst
nach Fertigstellung des Hauses auf dem Frauenkopf 1929, nur halbherzig
und zunächst auch nur zeitweilig mitvollzieht. Dennoch bekommt er
im Oktober 1928 die erste umfassende Werkausstellung im Landesgewerbemuseum
und zeigt in ihr das Beste, was er bis dahin geschaffen habe.
Die großen WandbiIder, die Holzplastiken, die Architekturen, Bühnenbilder,
Portraits, Textil und die drei Baukästen. (19)
Die Ausstellung selbst war nur mäßig besucht und verzeichnete mit 5738 Personen die fünftniedrigste Besucherzahl des Jahres. Das mag mit an ihrem Titel - "Formen- und Farbenphantasien und -spiele" - gelegen haben. Mit Sicherheit wissen wir aus den erhaltenen Pressekritiken, daß Finsterlins PhantasiespieIe vom Publikum nicht ohne Schwierigkeiten nachvollzogen wurden. An 3. Oktober jedenfalls sprach Finsterlin im Rahmen der Ausstellung "Über seine künstlerischen Ziele" (Jahresbericht). Das Manuskript hat sich nicht erhalten, dagegen eine Mehrzahl erläuternder Tafeln, die Finsterlin den einzelnen Exponatgruppen beigegeben hatte, sowie ein kleiner Essay zum gleichen AnIaß. Sie sind insgesamt geeignet zu erkennen, wie und welche übergreifenden Zusammenhänge Finsterlin in seinem Werk gesehen hat.
In seinem Rückblick hatte Finsterlin bei den Exponaten der Stuttgarter Ausstellung unterschieden zwischen WandbiId. Holzplastik, Architektur, Bühnenbild, Portrait, Textil und den Baukästen. Dem widersprechen die Beistelltafeln nur auf den ersten Blick, wenn sie ordnen: Stilspiel, Didym, Formdomino, Riesenspielzeug, Bilder, Stickereien. Das einzige, was sich in ihrer Ordnung nicht unterbringen läßt, sind die Portraits. Und die dürfen wir, als nicht eigentlich zum Kernwerk gehörend, unberücksichtigt lassen, nachdem Finsterlin in der "Biographie in großen Zügen" selbst davon spricht, sich zwischenzeitlich mit Portraits und Landschaften über Wasser gehalten zu haben (20).
Zum Verständnis seines künstlerischen Anliegens ist es vernünftig, mit den Architektur-Baukästen einerseits, dem "Riesenspielzeug" andererseits zu beginnen, da sie auf die UrformenweIt rekurrieren, die anorganischen Urkörper und die Urkörper der Organismen.(21)
Dabei stellen sie in einer ersten Variationsreihe der sogenannten platonischen Körper, der Kugel, des Zylinders, des Kegels, des WürfeIs, der Pyramide etc. einerseits die großen Typen der Weltarchitektur vor: im Stilbaukasten.
Auf der anderen Seite habe sich aus den Urbildern der Organismen, der Bewegungsspindel, dem Gliederstern, der Schlange. dem Baum etc. in Idolen und Symbolen, in Wort und Bild der Weltmythus geschaffen, auf den das "Riesenspielzeug" Bezug nimmt.
Da das gewaltige Trägheitsgesetz, der allzu-menschliche, allzu-irdische Naturalismus den Fluß dieser ersten Variationsreihen erstarren ließ, ja sogar unter sich begrub, ist es Aufgabe des Künstlers, diese Variationsreihen fortzusetzen.
So zeigt der Baukasten "Didym" im Anschluß an das "Stilspiel" Abwandlungen, die wohl aus technischen Gründen In der Architektur vergangener Kulturen unterblieben waren, die Com-bi-nationen der verschiedenen Grundkörper, ihre Durchdringung durch alle gesetzrnäßigen harmonischen Punkte, Kanten und Flächen.
Um den Schritt zur Analyse und Synthese der Grundkörper leisten zu können, hat Finsterlin dann im "Fomdomino" die beiden Unendlichkeitskörper, den bipolaren Zylinder und den Vierkant (als Würfel), die Bogen- und Bruchkörper, in ihre Urelemente, in Kugel, Kegel, Tetraeder und Oktoeder und deren produktive Spielarten aufgelöst, und damit aufgrund der Verwandtschaft ihrer Zerfallsflächen neue Komplexe mit absolut harmonischen Beziehungen in fast unabsehbarer Anzahl ermöglicht.
Beim "Riesenspielzeug" geht Finsterlin von der Ruhekugel, der Schlange und der Verbindung beider zur periodischen Spindel, dem Optimalprojektil als organischen Urelementen aus, die zugleich die wesenhafte Belebung der Elementarkräfte symbolisieren. Denn das Projektil sei nicht nur die Optimalform [...] der fliegenden, schwimmenden, laufenden Organismen. sondern auch des Baumes, der Flamme, des lrrsterns usw. [...] während die Schlange außer den organiscben Vertretern in der Gestalt der Woge, des Windes, des Blitzes usf. [...] zum Ausdruck" komme.
Verbinde man diese Grundformen und wiederum
ihre Verbindungen miteinander und untereinander, bekomme man ein Reich
von Typen zweiten Grades, welche uns zum Teil mehr oder minder rein, merkwürdig
gleichweise im Weltmythus wie im Mikroskope entgegentreten: z.B. die Hydra
(Schlangenbaum) des indischen und griechischen Mythus und der unendlich
teilbare Hydrapolyp des Teiches, - Proteus und die Amöbe, Indra- und
Seestern [...] und die ganze Reihe der Mischwesen durch die Götterwelt
des Weltmythus.
Zweck des "Riesenspielzeugs" sei es, zur
Weiterführung dieser märchenhaften Kombinations- und Variationsreihen
anzuregen, [...], herauszuführen in die ewige Lebendigkeit der unerschöpflichen
Qualitäten, bis in die fast haIluzinatorische Allmacht der
bildhaften Vorstellung hinein.
Finsterlins Märchenspielzeug, die
mit und für dieses Spielzeug erfundenen Spiele sind ebenso wie die
"Bühnenbilder" der Ausstellung von 1928 eine Nutzanwendung des "Riesenspielzeugs".
freigesetzte Phantasie seines Schöpfers resp. Erfinders. Im Sinne
einer explizit nie ausformulierten, dahinter aber verborgenen Evolutionstheorie
(die in manchem an Goethe gemahnt), ist das organische Riesenspielzeug
Fortsetzung der 'anorganischen' Baukästen, selbst aber wiederum transzendierbar
ins "Illusionistische FlächenbiId".
Nach Finsterlin tritt auf ihm zu den (anorganischen
und organischen) Stereotypen der Erde - sich ihnen verbindend -
die beglückende, unendliche Verwandlungsmacht des Kosmos, den
er als die Heimat unseres souveränen Geistes begreift. Diese
Verwandlungsmacht ermögliche aus jedem gegebenen Nebelflecken
die Verwandtschaftsgebilde (die Similia) und darüber hinaus die unendlichen
Spiel-Arten [...] die geistige Transmutation der Formelemente.
Das ist natürlich Theorie, die im
Bild erst einmal Praxis werden will. Und die geht - analog - von Farbflecken
und hingeworfenen Lineamenten aus von gegenstandslosen Farb- und Linieninspirationen
(22), der Mutterlauge (23), aus der sich im MaIprozeß
die phantastischen Ereignisbilder (24) ausformen. Vittorino lmbrianis
für die Vorgeschichte der abstrakten Malerei so zentrale These/Theorie
vom Fleck (der macchia) läßt sich also auch für
Finsterlins Ausgangspunkt geltend machen, mit dem Unterschied, daß
seine Architekturen, daß seine Bilder auf einer anderen Realitätsebene
schließlich anorganisch/organisch Gegenständliches assozieren.
Für die letzte Gruppe, die "Stickereien",
kann ich mich kurz fassen, da die Ausstellung kein Beispiel zeigt. Sie
sollten im Gegensatz zu der fast tendenziösen Körperlichkeit
der übrigen Arbeiten für die Flächengestaltung und -spannung
neue Gesichtspunkte gewinnen, indem sie an die Stelle der dritten Dimension
des Raumes die vierte Dimension der Zeit setzen, was eine neuartige
Harmonie gleichsam überphysikalischer, um nicht zu sagen über-irdischer
Klangfiguren ergebe (25)
Eine solch musikalische Bestimmung erinnert an Kandinskys "Farbklänge" ebenso, wie der auslösende Farbfleck ins Umfeld abstrakter Malerei verweist. Hier war - so paradox es klingt - Finsterlin in seinen Bildern und Architekturen durchaus Zeitgenosse, Teilhaber einer sich seit 1910 etwa ausbildenden abstrakten Kunst, um sie in der Genese seiner Arbeiten zugleich wieder zu überschreiten durch Ausformungen, die eine nicht abbiIdende, wohl aber bildende Gegenständlichkeit anzielten, die man als sub- oder metarealistisch bezeichnen könnte (das wäre eine Frage der Sprachregelung).
Das Movens einer solchen Kunst war die Überzeugung. daß der lmpuls zu allem Werden das Spiel sei, die Spiel-Art von innen heraus. Nur das Spiel biete in dem langwierigen Prozesse vom Reiche der Urbeginne zu den Sphären der unendlichen Spielarten die Möglichkeit eines geistigen und seelischen Einswerdens mit den Bildekräften der Allnatur.
Auf dem Menschheitswege von den Wurzeln in die unabsehbaren Aufästelungen haben der Architekt, den Finsterlin als Künstler begriff, und der Künstler ihre Funktion, haben "Stilspiel", "Didym", "Formdomino", das "Riesenspielzeug" und die Bildkompositionen die Aufgabe, einen Weg weisen zu helfen, dem Scheerbart das eingangs zitierte Motto überschrieb:
Im Stil ist das Spiel das ZielDieses Ziel hat Finsterlin, hat seine alle Spielarten umfassende Kunst bisher nicht erreicht. Es ist, in einem wörtlichen Sinne, Utopie, o u t o p o s , Keinort und nirgends. Aber etwas von dem kosmischen Spiel begriffen und in irdischen Spielen sichtbar gemacht zu haben, ist das nicht geringe Verdienst des großen Kindes und reinen Toren Hermann Finsterlin.
Im Spiel Ist das Ziel der Stil
Am Ziel ist das Spiel der Stil.
[1987/1999 überarbeitet für Katalog Nantes]
Anmerkungen
1) Udo Kultermann: Dynamische
Architektur. München 1959.
2) Ulrich Conrads / Hans
G. Sperlich: Phantastische Architektur. Unterströmungen in der Architektur
des 20. Jahrhunderts. In: Zodiac. Rivista internationale d'architettura
contemporanea, 5, 1959, S. 117 ff.; Buchausgabe Stuttgart 1960.
3) Zitiert nach einem Brief
Bruno Tauts vom 1. Januar 1920. In: Die Briefe der Gläsernen Kette.
Hrsg. von Iain Boyd und Romana Schneider. Berlin 1986, S. 34.
4) Zit. nach dem Typoskript.
Erstmals veröffentlicht in: Reinhard Döhl: Hermann Finsterlin,
Eine Annäherung. Stuttgart 1988 [Buch und Katalog]
5) Nikolaus Pevsner: Finsterlin
and some others. In: Architectural Review, Vol. 132, No. 789, November
1962, S. 353 ff.
6) Dennis Sharp: Modern
Architecture and Expressionism. London 1966.
7) Franco Borsi / G.K. König:
Architettura d'ell Expressionismo.. Genova, Paris 1967.
8) Die Gläserne Kette.
Visionäre Architekten aus dem Kreis um Bruno Taut, 1919-1920. Städtisches
Museum Leverkusen/Schloß Morsbroich 1963; Akademie der Künste,
Berlin 1964.
9) Labyrinthe. Phantastische
Kunst vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Deutsche Gesellschaft für
Bildende Kunst (Kunstverein Berlin), 1966; Akademie der Künste (Kunsthalle
Baden-Baden) 1966/67.
10) H. Finsterlin. Architekturen
1917-24. Stuttgart o.J. [1966]. Der Katalog enthält neben dem Oeuvre-Verzeichnis
Beiträge von Jürgen Joedicke, Knut Lienemann, HPC Weidner und
von Finsterlin die Essays Innenarchitektur, Casa nova sowie einige Gedichte.
11) 60 Jahre Finsterlin.
Querschnitt durch sein Schaffen. Berufsverband Bildender Künstler,
München 1964; Hermann Finsterlin. Galleria del Levante. München
1968.
12) Hermann Finsterlin.
Württembergischer Kunstverein, Stuttgart 1973.
13) Hermann Finsterlin 1887-11973.
Zum 100. Geburtstag. Rathaus Sindelfingen 1987
14) Hermann Finsterlin.
Graphische Sammlung Stuttgart, 1988.
15) Hermann Finsterlin 1887-1973.
Malerei und Baukunst. Galerie Sparkasse, Bad Reichenhall 1991.
16) Vgl. Hermann Finsterlin.
Ein Werkquerschnitt. Kurhaus Schömberg 1999/2000. Katalog.
17) Nachweis siehe Anm.
3.
18) Gerhard Storck: Der
Fall Finsterlin. In: Hermann Finsterlin (1887-1973). Ideenarchitektur 1918-1924.
Entwürfe für eine bewohnbare Welt. Museum Haus Lange, Krefeld
1976.
19) Zitiert nach dem undatierten
Typoskript "Biographie in großen Zügen". Erstmals veröffentlicht
in: Reinhard Döhl: Hermann Finsterlin, Eine Annäherung. Stuttgart
1988 [Buch und Katalog]
20) Ebd.
21) Dies und die folgenden
Zitate nach einem undatierten kleineren Essay, in dem wir die gekürzte
Selbsteinführung in die Ausstellung Hermann Finsterlin, Formen- und
Farbenphantasien und -spiele, Landesgewerbemuseum, Stuttgart 1928 vermuten
dürfen, und vor allem nach den Beistelltafeln zu den einzelnen Exponatgruppen
dieser Ausstellung. Erstmals veröffentlicht in: Reinhard Döhl:
Hermann Finsterlin, Eine Annäherung. Stuttgart 1988 [Buch und Katalog]
22) "Biographie in großen
Zügen", siehe Anmerkung 19.
23) Vgl. den Aphorismus
"Wirkliche Phantasie ist das Zurückfinden zur Mutterlauge, wenn ihr
wollt, Gottvaterlauge, zum Urborn der gestalteten Welt, der aller Weltkörper
Zustände und Ereignisse schuf." Zit. nach dem Typoskript. Erstmals
veröffentlicht in: Hermann Finsterlin. Das literarische Werk. In:
Reinhard Döhl: Hermann Finsterlin, Eine Annäherung. Stuttgart
1988
24) "Biographie in großen
Zügen", siehe Anmerkung 19.
25) Nachweis siehe Anm.
21
Literatur
Reinhard Döhl: Hermann
Finsterlin, Gesamtkünstler. In: Zyma. Kunstmagazin Jg 6, 1988, Nr
2/3, S. 60-63
Reinhard Döhl: Hermann
Finsterlin, Eine Annäherung. Stuttgart 1988 [Buch und Katalog]
Reinhard Döhl: Hermann
Finsterlin. Das literarische Werk. Ebd.
Reinhard Döhl: Hermann
Finsterlin. Biografia. Moskau: Architekturmuseum 1990 [Katalog]
Reinhard Döhl: Hermann
Finsterlin. Kunsthalle Hamburg. Stuttgart 1995 [Katalog]
Reinhard Döhl: Hermann
Finsterlin & Schömberg. Schömberg 1999 [Katalog]