Reinhard Döhl
Der metaphysische Wert einer Gießkanne. Zum 75. Geburtstag Richard Huelsenbecks

"Ich bin aufgewachsen in einer Industriestadt des deutschen Westens unter der Obhut treusorgender Eltern, die Nietzsche nicht schätzten und Stefan George nicht einmal dem Namen nach kannten, aber wesentlich wußten, daß der wirkliche Zusammenhang zwischen Menschen begründet ist auf gegenseitige Duldung, Arbeit am Nächsten und unpersönliche Pflichterfüllung. Ich bin großgeworden in der Luft eines gutbürgerlichen deutschen Hauses, in dem weder mit Suppentellern geworfen wurde noch mit Schimpfworten... Mein Vater, obwohl Industriemensch, hatte die Seele eines Beamten, und alle seine guten Eigenschaften: die Pünktlichkeit, die Pflichttreue, der Fleiß, die innere und äußere Propreté kamen aus dieser Beamtensele. Mein Vater war im Herzen weich wie ein Mädchen... Meine Mutter gehörte zu jenem, jetzt nicht mehr lebenden Schlag von Frauen, die die Ehe nicht als Gelegenheit auffassen, möglichst viel Genuß und Bequemlichkeit zu erreichen. Zwischen ihr und dem Vater herrschte ein Wettkampf der Selbstaufopferung, wenn es sich um uns Kinder handelte."

Mit diesen Sätzen skizziert Richard Huelsenbeck 1931 rückblickend in einem "Lebenslauf" Herkunft und Elternhaus. Und vor allem diese Atmosphäre seines Elternhauses macht er für seine weitere Entwicklung verantwortlich:

"Ich habe das alles gesagt, weil Eltern, wenn Sie zu gut sind, ihre Kinder in große Gefahr bringen. Bei uns gab es alles, Liebe und Butterstullen und reine Bettücher aber keine Ahnung von der Bosheit der Welt, die doch der Kontrahent ist, mit dem erwachsene Menschen am häufigsten zu tun haben... Es war... jene Lauheit, geboren aus der Güte, herkommend aus der im Blut kreisenden Achtung vor den Moralgesetzen und die selbstverständliche Unterordnung unter das Wilhelminische Staatsgebilde, das mich zum Protestler werden ließ... Ich schoß weit übers Ziel hinaus, schwor, es nur mit Idioten zu tun zu haben, und gründete den Dadaismus. Ich will auf diesen Jammer hier nicht zurückkommen; der Weltkrieg kam hinzu, von dem wir glaubten, er sei die Ausgeburt bestimmter unfähiger deutscher Gehirne. Wir verwechselten die wahre deutsche Kultur mit der falschen, wir warfen alles in einen Topf; wir lehnten jede differenzierte Blickart ab und hofften mit einem Gebrüll, dessen Begabung von allen Seiten bestätigt wurde, morsche Welten endgültig in Trümmer zu legen."

Am 23. April 1892 als Sohn eines Apothekers in Frankenau in Hessen geboren, verbringt Huelsenbeck seine Jugend in Dortmund und Bochum. Sein Studium der Medizin, dann der Germanistik, der Kunstgeschichte und Philosophie, bis er schließlich doch zum Dr. med. promoviert, in Paris, Zürich, Berlin, Greifswald, Münster und München, zeigt ihn gleichsam schon an der Oberfläche als unruhigen Geist und wißbegierigen Menschen, den es auch nach Abschluß seiner Studien, nach Ende des Krieges nicht in Berlin hält, wo er seit 1914 seinen "festen Wohnsitz" hat. Statt dessen fährt er zunächst als Schiffsarzt mit einem Frachtdampfer nach Ostasien, lernt auf diese Weise Indien, Afrika, Nord- und Südamerika kennen und kommt Ende der zwanziger Jahre noch einmal als Korrespondent großer Tageszeitungen nach China, Indien und Mexiko. Nicht lange in Berlin seßhaft, muß er 1936 mit seiner Familie nach Amerika fliehen und läßt sich in New York als Facharzt für Psychiatrie unten dem Namen Charles R. Hulbeck nieder, um auch dort "einen Roman" zu erleben, "dessen Niederschrift (nach Meinung Hans Arps) ein Bestseller werden könnte".

Heute, wo man sieh über die Bedeutung des Dadaismus klarzuwerden beginnt, ein Porträt Huelsenbecks zu skizzieren, heißt vor allem, Auskunft über den Dadaisten Huelsenbeck zu geben. Als er im Februar 1916 nach Zürich kommt, wird er als willkommene Verstärkung des Anfang des Monats von Hugo Ball inszenierten "Cabaret Voltaire" begrüßt. In den ersten Programmen des Cabaret Voltaire ist allerdings vom Dadaismus noch nicht die Rede. Ball spricht in seinem Tagebuch noch am 3. Juni von einem "Durcheinander der Stilarten und der Gesinnung". Arp beschreibt in seinen Erinnerungen ein verschollenes Bild Marcel Jancos: "In einem kunterbunten, überfüllten Lokal sind einige wunderliche Phantasten auf der Bühne zu sehen, welche Tzara, Janco, Ball, Huelsenbeck, Emmy Hennings und meine Wenigkeit darstellen. Wir vollführen einen Höllenlärm. Das Publikum um uns schreit, lacht und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Wir antworten darauf mit Liebesseufzern, mit Rülpsen, mit 'Muh, Muh' und 'Miau, Miau' mittelalterlicher Bruitisten. Tzara läßt sein Hinterteil hüpfen wie den Bauch einer orientalischen Tänzerin. Janco spielt auf einer unsichtbaren Geige und verneigt sich bis zur Erde, Frau Hennings mit einem Madonnengesicht versucht Spagat. Huelsenbeck schlägt unaufhörlich die Kesselpauke, während Ball, kreideweiß wie ein gediegenes Gespenst, ihn am Klavier begleitet." Huelsenbeck nennt in einer "Selbstbiographie" ("Die dadaistische Bewegung") 1920 das Cabaret Voltaire ein "literarisches Zentrum für alle diejenigen, die der Krieg über die Grenzen ihres Vaterlandes geworfen hatte. Hier rezitierte man Gedichte, tanzte, sang und konferierte über die Möglichkeiten der jüngsten Kunst. Das Cabaret Voltaire wurde zur Experimentierbühne aller derjenigen Probleme, die die modernste Aesthetik bewegten... Im Cabaret Voltaire wurden die Fetzen und Eindrücke der verschiedenen Länder zum Gegenstand neuer heftiger Diskussionen gemacht. Im allgemeinen neigte man dazu, den Tendenzen der abstrakten ungegenständlichen Kunst den Vorzug zu geben. Man erkannte Kandinsky und Picasso als überragende Persönlichkeiten an, während Marinetti mit seinem Futurismus und seinem wütenden Nationalismus der ganzen radikal pazifistisch eingestellten Stimmung des Cabaret Voltaire weniger entsprach."

Vor allem Huelsenbeck gerät energisch in Widerspruch zu dem Nationalismus der Futuristen, ohne deren Manifeste, ohne deren Theorie der Simultaneität und des Bruitismus dennoch die wichtigen literarischen Leistungen des Dadaismus kaum denkbar sind. Schon 1913 hat sich Huelsenbeck in der "Revolution" in einer Glosse "Chauvinisten: hier und da" über ein übersteigertes Nationalbewußtsein mokiert. Aber er kann sich im Grunde auch nicht mit der Tendenz zur abstrakten ungegenständlichen Kunst anfreunden. Daß seine "Phantastischen Gebete", im Erstdruck 1916 mit einem Holzschnitt Arps versehen, in einer Neuausgabe 1921 von George Grosz illustriert werden, ist aufschlußreich. Mehr an dadaistischer Aktion als an literarischer Produktion interessiert, scheint der Dadaismus für Huelsenbeck eher so etwas wie ein gesellschaftlicher, ein politischer Affront im weiteren Sinne, "unterdrückte Wut,... das Vergnügen, sich auf Kosten der Spießer loslassen zu dürfen", wie sich Richter der Auftritte Huelsenbecks im Cabaret Voltaire erinnert, während Ball schildert: "Er gibt, wenn er auftritt, sein Stöckchen aus spanischem Rohr nicht aus der Hand und fitzt damit ab und zu durch die Luft. Das wirkt auf die Zuhörer aufregend. Man hält ihn für arrogant und er sieht auch so aus. Die Nüstern beben, die Augenbrauen sind hoch geschwungen. Der Mund, um den ein ironisches Zucken spielt, ist müde und doch gefaßt. Also liest er, von der großen Trommel, Brüllen, Pfeifen und Gelächter begleitet."

Man kann heute übersehen, daß das, was sich in den folgenden Jahren unter der Bezeichnung Dadaismus auch an Widersprüchlichem subsumiert, nicht die Erfindung eines einzelnen ist, sondern - wie Huelsenbeck rückblickend 1964 formuliert - "spontane Gründung jugendlicher Menschen von unterschiedlichem Charakter, so verschieden, daß es heute unendlich schwer ist, die Gemeinsamkeiten herauszuschälen und zu definieren". Daß Huelsenbeck - im Jargon der Dadaisten - einer der dadaistischen Päpste ist, steht außer Frage. Eine andere, bis heute nicht eindeutig geklärte Frage ist dagegen, wer das Wort Dada und damit die Bezeichnung für einen Ismus gefunden hat, der sich von anderen Ismen dadurch unterscheidet, daß die Autoren und Künstler, soweit sie sich zum Dadaismus rechnen oder zu rechnen sind, durchaus ihr eigenes Profil gewahrt oder gewonnen und jeder für sich ein durchaus eigenständiges und gelegentlich recht komplexes Werk hinterlassen haben. Über diese Frage ist nach den eigentlichen Jahren des Dadaismus vor allem zwischen Huelsenbeck und Tzara sehr gestritten worden. Zwar hat Arp 1921 in einer "Déc1aration" Tzara die Findung des Wortes Dada zugeschrieben: "Je déclare que Tristan Tzara a trouvé le mot Dada le 8 février 1916 à 6 heures du soir". Dagegen macht Huelsenbeck geltend, er habe das Wort zufällig im Larousse gefunden, als er und Ball einen passenden Namen für eine im Cabaret auftretende Sängerin suchten. Die Tatsache, daß Tzara das Wort zum erstenmal am 26. Februar in seinem Tagebuch erwähnt und ein Brief Balls an Huelsenbeck vom 8. November 1926 - "Zu guter Letzt hab ich auch den Dadaismus darin beschrieben (Cabaret und Galerie). Du hättest dann das letzte Wort zur Sache, wie Du das erste hattest" - machen in der Tat die Wortfindung durch Huelsenbeck sehr wahrscheinlich

Wie gesagt bezeichnet Dada oder Dadaismus in der Folgezeit durchaus keinen eindeutig faßbaren Gruppenstil. Huelsenbeck, der schon Ende 1916 oder im Januar 1917 (hier variieren die Angaben) von Zürich nach Berlin zurückkehrt und dort zusammen mit Raoul Hausmann, Wieland Herzfelde, John Heartfield, George Grosz und anderen den Berliner Dadaismus inszeniert, begründet 1920 in "En avant Dada. Eine Geschichte des Dadaismus" die Verschiedenheit dessen, was unter Dadaismus verstanden wurde, aus den verschiedenen psychologischen Voraussetzungen: "Die Idee des Wortes Dada hat sich dann späterhin in mancherlei Weise geändert. Während die Dadaisten der Ententeländer, unter der Führung von Tristan Tzara, unter Dadaismus heute noch nicht viel anderes verstehen als 'l'art abstrait', hat Dada in Deutschland, in dem die psychologischen Voraussetzungen für eine Tätigkeit in unserem Sinne ganz andere sind als in der Schweiz, in Frankreich und in Italien, einen ganz bestimmten politischen Charakter angenommen."

Es ist aufschlußreich, daß Huelsenbeck seine beiden dadaistischen Gedichtbücher in Zürich schreibt und daß nach seiner Rückkehr nach Berlin jetzt jene Reihe von Manifesten, Pamphleten, Traktaten folgt. Die rein literarischen Veröffentlichungen sind eher expressionistisch als dadaistisch, mehr vom gesellschaftskritischen Standpunkt aus formuliert denn als sprachliche Demonstration gedacht. Sind die in Zürich entstandenen Gedichte noch auch fomalsprachliche Opposition gegen eine "archaische Einstellung zu dem Begriff des Dichters überhaupt, der... wie in der Antike die Rolle eines erhabenen Propheten spielen soll", gegen den Autor, der glaube, "man könne... als Dichter nichts Besseres tun, als jenes hohe Vorbild nachzuahmen, das man in Deutschland unter dem Kollektivnamen Goethe verstanden wissen will", so gilt es jetzt in Berlin - bedingt durch die anderen "psychologischen Voraussetzungen" - nicht mehr, die "richtige Kunst" zu machen. Kunst ist nur mehr "Propagationsmittel für eine revolutionäre Idee. Wir suchten die Kunst- und Kulturideologie einer beruhigten Klasse mit ihren eigenen Mitteln zu zerstören. Wir suchten den Begriff der Leistung innerhalb des geistigen Ressorts einer müden Bourgeoisie mit allen Waffen der Groteske, des Witzes und der Satire in geschlossener Phalanx zu zerschlagen, da wir in ihm eine maßlos ungerechte Klassifikation sahen... Für uns [lag] der Geist keineswegs nur in der artistischen Leistung eines Dichters, es war für uns eine Absurdität, die Menschen geistiger und besser (Meliorismus!) machen zu wollen, da nach unserer Ansicht der metaphysische Wert eines Geistigen und, um ein beliebiges Beispiel heranzuziehen, einer Gießkanne durch keine intellektuelle Manipulation zu differenzieren war."

Nicht zuletzt aus dieser Einstellung erfolgen jetzt jene berühmt gewordenen Demonstrationen. Anfang April 1918 wird der "Club dada" gegründet, der am 12. April in der "Neuen Sezession" bereits seinen ersten großen Dadaabend veranstaltet, dem bis 1920 noch elf weitere folgen. Ihre Matineen führen die Berliner Dadaisten bis nach Dresden, Leipzig und Prag. Es kommt zu den bekannten Publikumsstürmen auf die Bühne, und es wiederholen sich die Erfahrungen der Futuristen in Italien, der Dadaisten in Zürich. Der 1920 von Richard Huelsenbeck herausgegebene "Dada Almanach" im Gegensatz zu der von Tzara zusammengestellten "Anthologie Dada" (1919), die von Hausmann herausgegebene, nur in drei Nummern erschienene Zeitschrift "Der Dada" (1919/20) im Gegensatz zu Tzaras Organ "Dada" zeigen noch einmal beispielhaft die genannten Unterschiede zwischen Zürich und Berlin, bis - wie Hausmann rückschauend meint - "die politischen Ereignisse und die Uneinigkeit der Mitglieder ganz selbstverständlich zur Auflösung der Berliner Dadabewegung" führen.

Huelsenbecks Hoffnung, der Dadaismus werde "aus eigener Machtvollkommenheit zu einer selbstgewählten Stunde sterben", hat sich nicht erfüllt. Huelsenbecks selbstkritische Einschätzung von 1931, er sei weit über das Ziel hinausgeschossen, wird aus größerem zeitlichen Abstand nach 1957 von ihm selbst widerrufen. In vielfacher Weise - so zeigt sich nämlich heute - hat der Dadaismus über sich selbst hinaus gewirkt, kommen seine künstlerischen Errungenschaften mehr als die des Expressionismus eigentlich erst heute zum Tragen.

[Stuttgarter Zeitung, 22. April 1967]